Die mediale Konstruktion regionaler Identität – Istrische regionale Identität und kroatischer Nationalstaat
Vortragender: Ivo Vacík, Universität Leipzig
Der Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaates Jugoslawien in den 1990er-Jahren wurde von einer Welle ethnonationalistischer Bewegungen begleitet – ein Phänomen, das regelmäßig mit der Herausbildung neuer Nationalstaaten einhergeht. Auch in jenen Nachfolgestaaten, deren konstitutive Nationen sich bereits zuvor historisch herausgebildet hatten, setzten sich in den 1990er Jahren stark exklusive, nationalhomogenisierende Tendenzen durch. Der neue kroatische Nationalstaat unter Präsident Franjo Tuđman forcierte ein homogenes nationales Selbstverständnis, gestützt auf Geschichtspolitik, Religion und kulturelle Abgrenzung. Die Medien spielten in diesem Prozess eine zentrale Rolle als Träger und Verstärker nationaler Deutungsmuster.
Doch nicht alle Bürger:innen schlossen sich diesem nationalen Identitätsdiskurs an, in manchen Regionen stieß er auf Widerstände oder konkurrierende Vorstellungen. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Halbinsel Istrien. Bereits vor den ersten freien Wahlen im Jahr 1990 und vor der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens war dort eine deutlich antinationalistische Grundstimmung erkennbar. Diese fand in der 1990 gegründeten Regionalpartei Istarski demokratski sabor (IDS, deutsch: Istrische Demokratische Versammlung) ihren politischen Ausdruck. Die IDS vertrat ein pluralistisches, multikulturelles und europäisch orientiertes Regionalmodell. Bei der Volkszählung 1991 deklarierten sich 16,1 % der Bevölkerung Istriens nicht als Kroat:innen, Italiener:innen oder Slowen:innen, sondern als „Istrier:innen“. Dies verweist auf die Existenz eines ausgeprägten regionalen Identitätsgefühls jenseits ethnischer Kategorien.
Die geografische Randlage, der Halbinselcharakter und das spezifische historische, kulturelle und rechtliche Erbe Istriens – Venedig, Habsburger Monarchie, Italien, Jugoslawien – bilden einen fruchtbaren Boden für die Ausbildung einer eigenständigen regionalen Identität. In dieser historischen Gemengelage erweist sich Istrien als besonders aufschlussreiches Fallbeispiel für die Analyse von Identitätskonstruktionen in der Transformationsphase nach dem Zerfall Jugoslawiens. In Istrien entwickelte sich ein regionales Identitätsmodell, das nur bedingt mit den zentralstaatlichen Narrativen kompatibel war. Die Spannungen zwischen regionaler Autonomie und nationaler Homogenisierung spiegelten sich dabei unter anderem im medialen Diskurs wider. Genau diese diskursive Aushandlung steht im Zentrum des in diesem Vortrag vorgestellten Dissertationsvorhabens. Dabei wird untersucht, wie kollektive Identität – genauer: eine regionale, istrische Identität, die oft unter dem Begriff „Istrianität“ gefasst wird – in den Printmedien öffentlich verhandelt und diskursiv konstruiert wurde.
Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Spannungen zwischen nationalem Anspruch und regionaler Selbstverortung im medialen Diskurs der 1990er-Jahre niederschlugen. Dazu werden zwei Printmedien mit entgegengesetzten Perspektiven untersucht: die regional verwurzelte Glas Istre und die nationalstaatlich orientierte Večernji list. Analysiert werden unter anderem symbolische Grenzziehungen, historische Narrative, kulturelle Marker und mediale Inszenierungen von Zugehörigkeit.
Der Vortrag gibt Einblick in ein laufendes Dissertationsprojekt zur Rolle der Medien bei der Konstruktion kollektiver Identität in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs.
Ivo Vacík ist Doktorand an der Universität Leipzig und Referent für Europa und Internationales bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.
Am 25.06.2025, 17:15 h
Venue: Campus Augustusplatz Seminargebäude SR 426, Augustusplatz 10, 04109 Leipzig // Online via Zoom
In Kooperation mit:
Universität Leipzig